Atomunfall in Harrisburg 1979

  • Search28.03.2024

Als Amerika am Super-GAU vorbeischrammte

Am 28. März 1979 versagt im Reaktor Three Mile Island in Harrisburg die Technik. Die Brennstäbe schmelzen, die Betreiberfirma lügt und 140.000 Menschen fliehen aus der Stadt. Rückblick auf den schwersten Atomunfall der USA.

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    Atomunfall in Three Mile Island, Harrisburg, 1979: Amerika ist nur knapp an einem Super-GAU vorbeigeschrammt.

    Der Unglücksreaktor im März 1979: 140.000 Menschen haben die Kleinstadt Harrisburg panisch verlassen.

     

    Von Jasmin Lörchner

    Für Jim Cornwell und seine Frau sollte der 28. März 1979 eigentlich ein besonders schöner Tag werden: Seine Frau lag im Lankenau Hospital im US-Bundesstaat Pennsylvania mit dem ersten gemeinsamen Kind in den Wehen. Die werdenden Eltern hätten sich auf die Geburt konzentrieren sollen, doch stattdessen spähte Cornwell immer wieder ängstlich aus dem Fenster des Kreißsaals. In die Schmerzenslaute der Geburt mischte sich die Stimme eines Radiomoderators, der nervös über den Unfall im nahe gelegenen Atomkraftwerk Three Mile Island berichtete.

    Dort war am Morgen die Kühlung ausgefallen, sogar radioaktive Gase waren entwichen. „Ich erwartete, dass jeden Moment ein schreckliches grünes Leuchten am Nachthimmel erscheinen würde. Wir sollten fliehen, uns in Sicherheit bringen, dachte ich. Aber wie?“, erinnerte sich Cornwell später.

    Cornwell und seine Frau bekamen in dieser Nacht einen gesunden Jungen. Doch wie Hunderttausende Einwohnerinnen und Einwohner der Gegend mussten sie noch tagelang um ihre Sicherheit bangen, bis endlich die erlösende Nachricht kam: Der GAU in Three Mile Island war abgewendet worden. Aber auch wenn es schließlich Entwarnung gab: Das Vertrauen der amerikanischen Öffentlichkeit in die Atomkraft war erschüttert.

    Dabei galt Three Mile Island als moderner Reaktor. Erst 1974 war die Anlage südlich der Kleinstadt Harrisburg am Susquehanna-Fluss ans Netz gegangen. Nach dem Energiepreisschock infolge der Ölkrise erschien die Atomkraft als effiziente Alternative zur Stromerzeugung. Als „grenzenlose, vom Menschen beherrschte Energie“ pries die Industrie sie an.

    Die Betreiber wollen einen Stillstand vermeiden. Denn der ist teuer

    Three Mile Island verfügte über zwei Druckwasserreaktorblöcke, die 600.000 Haushalte der Region mit Strom versorgten. Der erste Block wurde 1974 angeschlossen, der zweite 1978. Doch nur wenige Monate nach der Inbetriebnahme wurde Block zwei zum Schauplatz des bisher schwersten Atomunfalls auf amerikanischem Boden.

    Das Drama begann während der Nachtschicht in den frühen Morgenstunden des 28. März 1979, heute vor 45 Jahren: Gegen vier Uhr morgens fiel eine Pumpe aus, die Kühlwasser in die Reaktoren leitete. Weil dadurch eine Überhitzung drohte, griff ein Sicherheitsmechanismus, der den Reaktor automatisch herunterfahren konnte. Doch jede Minute, in der das Atomkraftwerk keinen Strom erzeugte, bedeutete einen finanziellen Verlust für die Betreiberfirma Metropolitan Edison (MetEd).

    Im Kontrollraum von Three Mile Island spielen nach dem Atomunfall die Alarmsignale verrückt. Was im Reaktor vor sich geht, wissen die Ingenieure nicht.

    Im Kontrollraum spielen nach dem Atomunfall die Alarmsignale verrückt. Was wirklich im Reaktor vor sich geht, verraten die Instrumente nicht.

    Nachtschichtleiter Bill Zewe ordnete deshalb im Kontrollraum an, Kühlwasser manuell einzuleiten. Das einströmende Wasser verdampfte in der enormen Hitze rund um den Urankern beinahe sofort, der Druck im Reaktor stieg gefährlich schnell. Auf der Instrumententafel im Kontrollraum begannen zahlreiche Warnlampen zu blinken, Alarmsignale schrillten. Schließlich öffnete sich ein Notfallventil, das Dampf und überschüssiges Wasser ablassen konnte, um den Druck im Reaktor zu regulieren.

    Im Normalbetrieb hätte sich das Ventil anschließend automatisch wieder geschlossen. Doch es blieb offen und ließ weiter Kühlwasser ab, mehr als 121.000 Liter. Die Ingenieure im Kontrollraum bemerkten davon nichts: Ihre Instrumente zeigten ihnen an, dass sich das Ventil wieder geschlossen hatte.

    Im Reaktor beginnt die Kernschmelze. Im Kontrollraum ahnen sie nichts davon

    Sie waren deshalb ratlos, als erst ein weiterer Alarm ansprang und dann der nächste Sicherheitsmechanismus griff: Pumpen leiteten automatisch erneut Kühlwasser in den Reaktor. Um eine vermeintliche Fehlfunktion im Reaktor zu stoppen, schalteten die Techniker die Notfallpumpen wieder ab. Sie glaubten, das Problem gelöst zu haben. Dabei war der Reaktorkern nur noch zur Hälfte mit Kühlwasser bedeckt. Die Brennstäbe begannen zu schmelzen.

    Three Mile Island: Das historische Pressebild zeigt, wo radioaktives Gas ausgetreten ist. Dass es zu einer teilweisen Kernschmelze gekommen ist, wird erst viel später bekannt.

    Das historische Pressebild zeigt, wo radioaktives Gas ausgetreten ist. Dass es zu einer teilweisen Kernschmelze gekommen ist, wird erst viel später bekannt.

    Kurz darauf wurde die Kakofonie der Warntöne im Kontrollraum von einem beängstigenden Alarm übertönt: Die Sirene der Anlage warnte vor freigesetzter Radioaktivität. Später wurde klar, dass kontaminiertes Wasser in ein Nebengebäude eingedrungen und Radioaktivität in die Umgebungsluft entwichen war. Nachtschichtleiter Zewe rief über die Sprechanlage einen Notfall im Atomkraftwerk aus. Auch Richard Lewis Thornburgh, der Gouverneur des Bundesstaats Pennsylvania, wurde unterrichtet. Von dort nahm die dramatische Nachricht ihren Lauf zu US-Präsident Jimmy Carter ins Weiße Haus.

    Zur technischen Krise des Atomkraftwerks kam bald eine Kommunikationskrise, zusätzlich befeuert durch einen brisanten Zufall: Zwölf Tage vor dem Unfall hatte der Film „The China Syndrome“ über eine Kernschmelze in einem kalifornischen Atomkraftwerk in den Kinos Premiere gefeiert. Die Menschen in und um Harrisburg kamen sich bald selbst vor wie in einem schlechten Film.

    Die Kommunikation in Harrisburg ist chaotisch. Und die Betreiberfirma lügt

    Längst hatte die Presse Wind bekommen, dass in Three Mile Island etwas vor sich ging. Viele Reporter hörten den Polizeifunk ab, über den am Morgen Notfalleinheiten zum Atomkraftwerk beordert wurden. Um zehn Uhr morgens verkündete Vizegouverneur William Scranton III auf einer Pressekonferenz, dass für die Öffentlichkeit keine Gefahr bestehe. Das hatte sich Scranton von der Betreiberfirma MetEd bestätigen lassen.

    MetEd schickte am Nachmittag den Ingenieur John Herbein vor die Presse. Sein Job war undankbar, denn Herbein hatte keine Erfahrung im Umgang mit Reportern. Nervös verhaspelte er sich: „Der Unfall …“, setzte er an und verbesserte sich eilig zu „der Vorfall“. Herbein sollte der Presse verkaufen, dass keine Radioaktivität ausgetreten sei und auch keine Gefahr einer Verseuchung der Luft bestehe.

    Atomunfall in Three Mile Island 1979: John Herbein (links) von MetEd bei einem seiner desaströsen Pressetermine.

    „Der Unfall ... äh, der Vorfall“: John Herbein (links) bei einem seiner desaströsen Auftritte vor der Presse.

    Doch MetEd hatte gelogen. Inspektoren maßen knapp fünf Kilometer von Three Mile Island entfernt eine kleine Strahlendosis. Die Öffentlichkeit und das Büro des Gouverneurs fühlten sich betrogen. Vizegouverneur Scranton besuchte die Anlage am 29. März, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Er realisierte den Ernst der Lage, als man ihn minutenlang in einen Schutzanzug verpackte.

    Der Gouverneur ringt sich zu einer Entscheidung durch: eine Teil-Evakuierung

    Details über den Zustand in Three Mile Island drangen dennoch weiter nur spärlich an die Öffentlichkeit. „Ich weiß nicht, warum wir gezwungen sind … warum wir gezwungen sind, Ihnen jede Kleinigkeit, die wir ... die wir … unternehmen … mitzu … mitzuteilen“, stotterte sich Herbein hilflos durch einen weiteren Pressetermin, verärgert über die drängenden Fragen der Journalistinnen und Journalisten. So untergrub man das Vertrauen der Öffentlichkeit zusätzlich.

    Am Freitag, zwei Tage nach Beginn des Unfalls, wurde bekannt, dass erneut eine kleine Menge von radioaktivem Gas aus der Anlage entwichen war. Gouverneur Thornburgh kämpfte mit der Frage, ob er die Bevölkerung evakuieren lassen sollte. Eine solche Anordnung konnte eine Massenpanik auslösen. Am Freitagmittag rang er sich zu der Anweisung durch, Schwangere und Kinder im Umkreis von acht Kilometern um Three Mile Island zu evakuieren. Alle anderen sollten in ihren Häusern bleiben und Türen und Fenster geschlossen halten.

    Dann heult die Sirene in Harrisburg. Panisch verlassen 140.000 Menschen die Stadt

    Doch dann betätigte jemand – wer, ist bis heute unklar – die Sirene in Harrisburg. Die Menschen eilten von der Arbeit nach Hause, warfen einige wenige Habseligkeiten ins Auto und verließen panisch die Region. Schnell bildete sich eine Autokolonne; 140.000 Menschen flohen aus Harrisburg und Umgebung.

    Atomunfall in Three Mile Island 1979: Frauen und Kinder in einem Evakuierungszentrum.

    Zwei Frauen warten mit ihren Kindern in einer Notunterkunft auf Nachrichten aus Harrisburg. Doch die Öffentlichkeit erfährt wenig.

    Gouverneur Thornburgh hoffte auf Rat und Lösungsvorschläge von der Regulierungsbehörde NRC. Doch deren Verantwortliche hatten beim Bau der Anlagen offenbar nicht allzu genau hingesehen und drucksten herum. Thornburgh beklagte in einem Telefonat mit Präsident Carter, dass niemand ihm verlässliche Informationen lieferte. Carter, selbst Nuklearingenieur, schickte Harold Denton nach Pennsylvania, einen seiner besten Experten.

    Experten warnen vor einer Wasserstoffblase. Droht eine Explosion in Harrisburg?

    Denton und sein Spezialistenteam wurden kurz nach ihrer Ankunft mit einer Warnung des Nuklearexperten Roger Mattson konfrontiert: Über dem Reaktor habe sich eine Wasserstoffblase gebildet, die zu einer Explosion führen könne. Dentons Team bezweifelte den Befund und musste komplizierte Berechnungen der Messwerte anstellen, um Mattson zu widerlegen. Doch dessen Warnung hatte die Nation endgültig in Panik versetzt.

    Dentons Team rechnete noch immer, als Carter mit seiner Frau Rosalynn am Sonntag, vier Tage nach Beginn der Krise, die Nuklearanlage besuchte. In gelben Schutzschuhen ließen sie sich durch den Kontrollraum führen. Erst Sonntagnachmittag gab Denton Entwarnung: Die Wasserstoffblase war keine Gefahr, Mattson hatte mit einer falschen Formel gerechnet. Zwölf Tage nach der Krise wurden schließlich alle Warnungen aufgehoben. Die Menschen konnten in ihre Häuser zurückkehren.

    Atomunfall in Three Mile Island 1979: US-Präsident Jimmy Carter besucht mit Nuklearexperte Harold Denton den Reaktor in Harrisburg.

    Jimmy Carter (heller Anzug) im Gespräch mit Harold Denton (Zweiter von rechts) auf dem Gelände von Three Mile Island: Wie groß die Zerstörungen im Reaktor sind, ahnt zu dieser Zeit noch niemand.

    Erst fünf Jahre später wurde während der Aufräumarbeiten in Three Mile Island deutlich, wie knapp man einer Katastrophe entkommen war: „Als sie den Reaktor öffneten und sahen, dass die Hälfte des Urans geschmolzen war, das ging weit über alles hinaus, was irgendjemand vermutet hatte“, sagte NRC-Commissioner Victor Gilinsky später der „New York Times“.

    2019 kommt das vorzeitige Aus für den Reaktor: Atomstrom ist zu teuer

    Die Zerstörung in Block zwei war so groß, dass der nur wenige Monate alte Reaktor permanent vom Netz genommen werden musste. Die Aufräumarbeiten dauerten mehr als ein Jahrzehnt und kosteten mehr als eine Milliarde Dollar. Block eins wurde sechs Jahre lang vom Netz genommen und trotz intensiver Proteste der Anwohner 1985 wieder hochgefahren. Er lief bis 2019. Dann wurde der Reaktor endgültig stillgelegt, obwohl er noch bis 2034 laufen sollte. Das hatte allerdings keine technischen, sondern ökonomische Gründe: Die teure Atomkraft konnte sich am Markt nicht mehr gegen günstigen Strom aus Gaskraftwerken und die immer schneller ausgebauten erneuerbaren Energien behaupten.

    Strommix in den USA von 1950 bis heute: Lange war Kohle der wichtigste Energieträge, inzwischen wird sie von Erdgas und erneuerbaren Energien zunehmend aus dem Markt verdrängt.

    Noch heute liest sich die Beschreibung des Unfalls auf offizieller Seite vergleichsweise harmlos. Die US-Atomenergiebehörde erklärte im Mai 2022, der Unfall habe „keine direkten Gesundheitseffekte“ nach sich gezogen: „Experten stellten fest, dass die rund zwei Millionen Menschen in der näheren Umgebung während des Unfalls geringen Strahlungsmengen ausgesetzt waren. Die geschätzte durchschnittliche Strahlungsdosis lag etwa ein Millirem über dem natürlichen Durchschnitt des Gebiets von etwa 100 bis 125 Millirem pro Jahr. Um es in Perspektive zu setzen: Die Strahlenbelastung bei einer Röntgenaufnahme des Brustkorbs beträgt etwa sechs Millirem.“

    Doch die Debatte um mögliche gesundheitliche Schäden hält an. Viele der damals zutiefst verängstigten Menschen der Region stellen sich bei Krebsdiagnosen von Familienmitgliedern und Freunden bis heute die Frage, ob Three Mile Island etwas damit zu tun hat.

    Harrisburg hat das Vertrauen in die Kernkraft erschüttert – nicht nur in den USA

    In der amerikanischen Öffentlichkeit entbrannte nach dem Unfall eine Debatte über die Sicherheit von Atomkraft. Drei Jahrzehnte lang wurde kein einziges Atomkraftwerk neu ans Netz genommen – stattdessen setzen die USA auf fossile Brennstoffe wie Kohle und Erdgas sowie erneuerbare Energien. Die Atomkraftdebatte schwappte 1979 auch nach Deutschland und Europa. Schweden erklärte noch 1980 den Atomausstieg, in Deutschland kam es zu Demonstrationen gegen das Endlager in Gorleben und zur Gründung der Partei Die Grünen.

    Bis zum Atomausstieg sollte es allerdings noch zwei Jahrzehnte dauern. Er wurde im Jahr 2000 von der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer beschlossen. CDU-Kanzlerin Angela Merkel verlängerte die Restlaufzeiten der Kernkraftwerke in ihrer zweiten Amtszeit in einer Koalition mit der FDP noch einmal. Doch schon ein Jahr später machte sie eine Kehrtwende. Grund war eine Atomkatastrophe, deren Folgen noch weit schlimmer waren als der Unfall in Three Mile Island: die Explosionen im japanischen Kernkraftwerk Fukushima.

    Als Reaktion auf Fukushima zog Merkel das Abschaltdatum der deutschen Reaktoren deutlich vor. In der Energiekrise nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verlängerte die Ampelkoalition die Laufzeiten noch einmal geringfügig. Doch im vergangenen April gingen die letzten drei Meiler endgültig vom Netz. Die Befürchtungen, Deutschland müsse als Folge des Atomausstiegs mehr klimaschädliche Braunkohle verbrennen, haben sich als falsch herausgestellt. Zwar importiert Deutschland derzeit mehr Strom als früher aus dem Ausland. Doch auch dieser Strom ist vergleichsweise sauber: Hauptlieferanten sind Dänemark und Norwegen mit ihren Überschüssen an Strom aus Windparks und Wasserkraftwerken. Die Import-Export-Bilanz mit dem Atomland Frankreich dagegen ist ausgeglichen.

    Atomkraftwerke werden kaum noch gebaut. Die Erneuerbaren dagegen boomen

    Auch international verliert die Atomkraft an Bedeutung. Zwar plant eine Reihe von Staaten hoch subventionierte Neubauten. Doch die Zahl der Atomkraftwerke weltweit stagniert, während erneuerbare Energien fast überall rasant ausgebaut werden. Und dennoch schwelen noch immer Debatten über eine vermeintliche Renaissance der Atomenergie. Viele preisen sie als CO2-arme Stromquelle, nicht nur sauber, sondern auch kontrollierbar. Das dachten die Betreiber der Anlagen in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima. Ein Trugschluss mit meist katastrophalen Folgen.

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